Frucht eines Sommers in Ischl
Johannes Brahms, der seit 1862 in Wien lebte, zog sich im Sommer zur Erholung nach Ischl zurück, um dort zu komponieren.
So auch im Sommer 1890, in dem ein spätes Meisterwerk entstand. Zunächst, so der Brahmsfreund und Biograph Max Kalbeck, war da ein Motiv.
Dieses Eingangsmotiv hätte, so Kalbeck, "im Zusammenhange mit der gewaltig aufbrausenden Art seiner Einführung das Allegro einer Symphonie" sein können.
Es wurde aber ein Streichquintett in G-Dur, das zweite, das Brahms schrieb, nach dem ersten in F-Dur op. 88 von 1882.
Dass dieses Motiv ordentliches Potential in sich trug, wurde bei den Proben zur Uraufführung durch das Rosé-Quartett deutlich.
Herausforderung für Cellisten
Über einem Teppich, den die Streicher weben, schwingt sich das Cello mit einem eindrucksvollen Solo von der tiefen Lage des Instruments hinauf bis in extreme Höhen. "Drei Cellisten in einem", so Geiger Joseph Joachim, wären nötig, "um das Thema bei dem wogenden Forte der andern Instrumente (zwei Violinen und zwei Bratschen) herauszubringen. Überall, wo das Werk zur Aufführung kam, wurde daran herumgeredet und -experimentiert. Kein Cellist konnte dem sempre forte, das sich ihm in der Unterströmung des Satzes entgegenstemmte, Oberwasser abgewinnen."
Auch der Cellist des Rosé-Quartetts, Reinhold Hummer, verzweifelte an diesem Satzbeginn.
Kalbeck: "Bei der ersten Probe, die Brahms in Wien mit dem Rosé-Quartett veranstaltete, gab der in seinem Violoncell gekränkte Hummer seiner stummen Verzweiflung anfangs keinen anderen Ausdruck, als daß er den Meister wie eine treue geprügelte Dogge vorwurfsvoll anblickte. Sigismund Bachrich aber, der erste Violaspieler, bat, kurz entschlossen als praktischer Musikus, der Komponist möge beim Anfang des Satzes sich mit einem mezzo forte begnügen.
Zwar brummte Brahms:
»So'n Bratschist will immer was Extra's haben!«
Er ließ sich aber die Stimmen reichen, schrieb mf hinein und für die erste Bratsche ein all'unisono, damit die Violoncellmelodie in der Tenorlage vom vierten Takt an von der Viola gestützt werde. Hummer versuchte dann, durch Bachrichs Erfolg ermutigt, gar, den Mitspielern einen noch wirksameren Dämpfer aufzusetzen – ein con sordino wäre ihm gewiß das Liebste gewesen! – drang aber in keiner Weise durch und verlor die Lust an der Sache."
Laut Styra Avins und Josef Eisinger erlaubte Brahms den Streichern, bei der Uraufführung piano zu spielen, aber, wie er handschriftlich an den Rand des Blatts der 1. Violine notierte:
»nur für das Rosé-Quartett und auf Wunsch von Herrn Hummer«.
[Styra Avins / Josef Eisinger: Sechs unveröffentlichte Briefe von Brahms. Aus: Brahms-Studien Band 13, 2002 (hrsg. von Martin Meyer)]
Egal ob forte, mezzoforte oder piano - die Uraufführung am 11. November 1890 im Bösendorfer-Saal in Wien war ein voller Erfolg.
[Besetzung:
Arnold Rosé und August Siebert (Violine), Sigismund Bachrich und Franz Jelinek (Viola), Reinhold Hummer (Cello)]
Wiens bedeutendster Kritiker Eduard Hanslick schrieb eine Woche später in der »Neuen Freien Presse« über das Uraufführungs-Konzert:
"Rosés Quartettgesellschaft brachte gleich in ihrer ersten Produktion [dieser Saison] ein neues, noch ungedrucktes Streichquintett (mit zwei Bratschen) von Johannes Brahms. Man kann nicht besser anfangen. Das neue Werk ist von jener süßen, klaren Reife, welche nur die Vereinigung vollendeter Meisterschaft und ungeschwächter Erfindung hervorbringt. (…) Immer mehr scheint sich Brahms zu konzentrieren, immer bewusster findet er seine Stärke im Ausdruck gesunder, verhältnismäßig einfacher Gefühle. Ein reiches Seelenleben webt darin, ohne Überhebung, ohne Überspannung. (…) Die Schönheit, die sich ja mit dem Herben wie mit dem Leidenschaftlichen verträgt, tritt bei Brahms immer bewusster, immer reiner in den Vordergrund. (…) Vielleicht ist es nur individuelle Vorliebe, die auf Allgemeingültigkeit keinen Anspruch macht, dass mir Brahms stets am vollkommensten erschien in seiner Kammermusik."
I. Allegro non troppo, ma con brio
"Ganz herrlich ist der erste Satz, ein "Allegro con brio" in G-Dur, Neunachteltakt. Wie siegesfreudig schwingt sich das Thema aus dem Violoncell hervor unter dem rauschenden Tremolo der Geigen! Hierauf die süße Melodie des Seitensatzes, von beiden Bratschen gesungen, und die Antwort der Violinen, dieses anmutige Reigen und Beugen in die große Septime herab! Wie sind die Motive und Motivchen des ersten Teiles so kunstvoll und doch so zwanglos verwertet in der Durchführung; fast immer überraschend und doch wieder, als konnte es gar nicht anders kommen!"
II. Adagio / III. Allegretto
"Sanft und innig klagt das Adagio, ein schwermütiger, etwas slawisch angehauchter Gesang in d-Moll. Es folgt ein Allegretto in g-Moll, mit einem lieblich wiegenden Trio in G-Dur; nach Art der meisten Brahmsschen Scherzos nicht eigentlich scherzend oder lustig, sondern in behaglichem Humor schlendernd, gleichsam vor sich hinsingend."
IV. Allegro assai
"Das Finale (…) ist ein scharf rhythmisierter Zweivierteltakt von leicht ungarischer Färbung. Es wirkt weniger durch die Bedeutung seiner Themen, als durch sein Temperament, das in fröhlicher, zuletzt ganz volkstümlich ausklingender Lust alles mit sich fortreißt.
Das Publikum, das jedes Plätzchen des Bösendorfer-Saales besetzt hielt, nahm jeden Satz der Novität mit stürmischen Beifalle auf und schien ein da capo des Scherzos durchsetzen zu wollen. Die Herren Rosé, Bachrich, Hummer, Siebert und Jelinek haben sich mit dem gründlich studierten Vortrage des an rhythmischen Schwierigkeiten reichen Werkes ein neues, bedeutendes Verdienst erworben."
(© MAS)
Literatur:
Eduard Hanslick: [Feuilleton. Concerte], »Neue Freie Presse« 18.11.1890. Digitalisat: ÖNB.
Max Kalbeck: Johannes Brahms. Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1921. 4. Band, S. 207ff.