Karl Weigl: Fünf Lieder für Sopran und Streichquartett op. 40

Karl Weigl [Karl Weigl Foundation]
Karl Weigl [Karl Weigl Foundation]

Vokalkompositionen waren eine große Leidenschaft von Karl Weigl. In seinen ersten Jahren komponierte er hauptsächlich für Singstimmen und erreichte bereits 1904 mit "Ein Stelldichein" für hohe Stimme und Streichsextett einen stilistischen Höhepunkt. Die Textgrundlage ist das gleichnamige Gedicht von Richard Dehmel (1863-1920) aus seiner Sammlung "Weib und Welt".

Seine besondere Affinität zu Vokalkompositionen zeigt sich in Weigls ausführlichem Werkverzeichnis. Es finden sich dort Lieder für Solostimme und Klavier, A-cappella-Kompositionen, Lieder für Stimme und Streichinstrumente, Chorwerke und Orchesterstücke mit Gesang.

Eine der bekanntesten und neben "Ein Stelldichein" am häufigsten aufgeführten Kompositionen sind die "Fünf Lieder für Sopran und Streichquartett op. 40". Komponiert 1934, wurde das Werk zum ersten Mal bei einem Privatkonzert im März 1937 aufgeführt. Die erste öffentliche Aufführung fand am 5. November 1937 im Brahms-Saal in Wien statt.

Es sang die international berühmte Sopranistin Elisabeth Schumann, der noch 1937 die Flucht erst nach England, dann in die USA gelang. (Elisabeth Schumann starb 1952 in New York.)

Elisabeth Schumann. [Library of Congress, Bain Collection]
Elisabeth Schumann. [Library of Congress, Bain Collection]

Das Rosé-Quartett spielte (nach den Angaben der Karl-Weigl-Foundation) in der Besetzung:

Arnold Rosé (Violine)

Anton Weiss (Violine). Er starb am 1. Dezember 1940 in Wien an den Folgen eines Schlaganfalls, den er nach der Vertreibung aus seiner Wiener Wohnung erlitten hatte.

Julius Stwertka (Viola). Er starb am 27. August 1942 gemeinsam mit seiner Frau in Theresienstadt.

Friedrich Buxbaum (Violoncello). Ihm gelang ebenso wie Arnold Rosé die Flucht nach England.

Alle Musiker waren Mitglieder der Wiener Philharmoniker.

Die Aufführung im November 1937 war ein großer Erfolg. Der Rezensent der Zeitung "Reichspost" schrieb am 9. November 1937:

"Kammersängerin Elisabeth Schumann, der diese Lieder zugeeignet sind, und das Rosé Quartett (die Herren Hofrat Rosé, Stvertka, Weiß und Buxbaum) erwiesen sich als vollendete Interpreten dieser vor allem auch im Instrumentalsatz hervorragenden Kompositionen und ernteten anhaltenden stürmischen Beifall." [Karl Weigl Foundation]

Die fünf Lieder des Zyklus sind:

Nr. 1 Trost (Text von Ina Seidel, 1885-1974)

"Unsterblich duften die Linden…"

Nr. 2 Sommernachmittag (Text von Vally Weigl, 1894-1982)

"Das Kindlein schläft im Garten…"

Nr. 3 Regenlied (Text von Klaus Groth, 1819-1899)

Nr. 4 Ave Maria (Text von Rudolph Himmel List, 1901-1979)

"In goldroten Abendgluten hab ich Dich geschaut, Maria!"

Nr. 5 Einladung zur Martinsgans (aus "Des Knaben Wunderhorn")

Es mutet heute schmerzhaft an, dass zwei der fünf Lieder von Dichtern stammen, die dem Nationalsozialismus nicht nur sehr nahe standen, sondern sich auch deutlich zu ihm bekannten.

Die Beteiligung von Ina Seidel und Rudolf List erscheint wie ein Riss, der sich durch den Zyklus von Karl Weigl zieht.

Weigl konnte nicht wissen, dass zwei der Dichter später zu denen gehören würden, die die Verfolgung, Vertreibung, ja vielleicht sogar die Ermordung jüdischer Künstler wenn nicht billigen, dann doch widerspruchslos hinnehmen sollten. Das steht als ein Menetekel für die kommende Katastrophe über dem Zyklus.

Ina Seidel, die Dichterin des ersten Textes war eine begeisterte Nationalsozialistin, die bereits im Oktober 1933 das "Gelöbnis treuester Gefolgschaft" für Adolf Hitler unterschrieb. 1944 wurde sie als eine von Joseph Goebbels und Adolf Hitler ausgewählte Schriftstellerin auf die "Gottbegnadeten-Liste" gesetzt, auf der über 1000 Künstler verzeichnet waren, die für das nationalsozialistische Dritte Reich eine besondere Bedeutung hatten.

"Trost" ist eines der bekanntesten Gedichte von Ina Seidel. Dem Gefühl der Vergänglichkeit (Wo kommst du her? / Wie lang bist du noch hier?) stellt die Dichterin das trostspendende ewige Wirken der Natur  gegenüber (Unsterblich duften die Linden). [Der Text kann aus Urheberrechtsgründen nicht vollständig angezeigt werden.]

Karl Weigl verwendete in diesem Lied ein für ihn kostbares musikalisches Motiv, ein Thema, das auch in den ersten Satz seines Streichquartetts Nr. 5 einging.

"Das thematische Material des Anfangs des 1. Satzes (des 5. Streichquartetts) liegt einem Liede zugrunde, welches für Gesang und Streichquartett von mir gesetzt wurde." (Karl Weigl) [Karl Weigl Foundation]

Das zweite Lied des Zyklus, Vally Weigls "Sommernachmittag", ist eine kleine poetische Idylle. Ein Kind schläft im sommerlichen Garten, es wird beschützt und bewacht von der Natur und der Sonne, die "Mittsommerfäden spinnt", eine Szenerie, die an den Zauberwald in Shakespeares "Mittsommernachtstraum" erinnert.

Auch das "Regenlied" des niederdeutschen Dichters Klaus Groth ist ein Naturgedicht. Groth, der auch in Plattdeutsch schrieb, wurde nicht nur von Karl Weigl, sondern auch von Arnold Schönberg und vor allem von seinem engen Freund Johannes Brahms vertont.

Klaus Groth, c 1884. (+)
Klaus Groth, c 1884. (+)

Regen, Regen, braus,

Wir sitzen warm zu Haus.

Die Vöglein an den Ast sich kauern,

Die Kühe stehn am Wall und schauern.

Regen, Regen, saus,

Hernieder auf das Haus!

Ein Wasserstrahl stürzt von dem Dach,

Und aus der Esche träuft's gemach.

Regen, Regen, roll,

Bis alle Gräben voll!

Dann laß' die Wolken weiter ziehen,

Die liebe Sonne wieder glühen.

Das vierte Lied: "Ave Maria". [Der Text kann aus Urheberrechtsgründen nicht angezeigt werden.]

Rudolf List war ein katholisch-konservativer österreichischer Journalist und Schriftsteller. Er trat 1933 aus dem P.E.N.-Club aus, weil die Autorenvereinigung gegen die Bücherverbrennungen und Verfolgungen von Schriftstellern im „Dritten Reich“ protestiert hatte.

Im April 1938 bejubelte er den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich als „Sieg des Geistes“.

Er ging sogar noch weiter, als er hämisch und voller Freude über die Flucht des jüdischen Schriftstellers Franz Werfel und seiner Frau Alma Mahler-Werfel hetzte:

„Die Werfel sind gefallen. […] Gewiß, die Würfel sind gefallen, unser deutsches Österreich ist in einem Sturm der Begeisterung heimgekehrt ins große, herrliche Reich, und damit ist gottlob mit einem Mal der jüdische Spuk in alle Winde zerstoben: auch die Werfel sind gefallen. […] Sie sind so sehr gefallen, der Werfel und sein hochmütiges Gewerfel, daß sie auf deutschem Boden nimmer aufstehen werden.“ (1)

Nach dem Krieg dann eine Kehrtwende: Als Redakteur der Zeitschrift "Austria" feierte List nun den jüdischen Emigranten Karl Weigl:

"Die Reihe der in den Vereinigten Staaten wirkenden Musiker aus Österreich weist eine Anzahl bekannter und klangvoller Namen auf: unter diesen verdient der des Wieners Karl Weigl eine besondere Nennung, zumal sich die österreichische Heimat seiner bis nun noch kaum in gebührender Weise erinnert hat. ( …) Es wäre gewiß die Pflicht der österreichischen Heimat, dieses bedeutenden Musikers, der ihr auch in der Ferne die Treue bewahrt hat, des öfteren in Aufführungen zu gedenken, es wäre ihrem Musikleben unzweifelhaft von außerordentlichem künstlerischem Gewinn." (2)

Der Zyklus endet mit der "Einladung zur Martinsgans", einem Scherzgedicht des barocken Dichters Simon Dach, das Anfang des 19. Jahrhunderts in der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" veröffentlicht wurde.

Wenn der heilge Sankt Martin

Will der Bischofsehr entfliehn,

Sitzt er in dem Gänsestall

niemand findt ihn überall,

Bis der Gänse groß Geschrey

Seine Sucher ruft herbey.

Nun dieweil das Gickgackslied

Diesen heilgen Mann verrieth,

Dafür tut am Martinstag

 

Man den Gänsen diese Plag,

Daß ein strenges Todesrecht

Gehn muß über ihr Geschlecht.

Drum wir billig halten auch

Diesen alten Martinsbrauch,

Laden fein zu diesem Fest

unsre allerliebste Gäst

Auf die Martinsgänslein ein,

Bey Musik und kühlem Wein.


Das spritzige Lied erscheint wie eine Verbeugung von Karl Weigl vor seinem großen Vorbild Gustav Mahler, der zwischen 1887 und 1898 fast zwei Dutzend Texte aus der Sammlung "Lieder aus den Knaben Wunderhorn" vertont hatte.

Martinsgans in Freiburg.  [Foto von Andreas Schwarzkopf (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)]
Martinsgans in Freiburg. [Foto von Andreas Schwarzkopf (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)]

In einer Kritik im "Der Wiener Tag" von 7. November 1937 heißt es:

"Die “Fünf Gesänge für Sopran und Streichquartett” von Karl Weigl, dem feinsinnigen, gedankentiefen Wiener Komponisten (...) sind von einem echt romantischen Geist durchsetzt. Vorherrschend ist ein starkes Verbundensein mit der Natur, ein Schwelgen in lyrischen Stimmungen, in denen das Weben weiter Sonnenlandschaften eingefangen ist, daneben machen sich auch volkstümliche Einschläge geltend, für die Mahlersche Lyrik das Vorbild gewesen sein mag. Karl Weigl versteht es, für die Singstimme zu schreiben. Lange schwebende Töne in der Höhenlage und breite Melismen bilden interessante Kontraste zu den mehr auf das Wort gestellten volkstümlichen Liedern. (…)  Der reich verästelte Streichquartettsatz versucht sehr glücklich, symphonische Elemente ins kammermusikalische umzusetzen. Die Weiglschen Lieder hat Elisabeth Schumann mit einer zu Herzen gehenden Innerlichkeit gesungen." [Karl Weigl Foundation]

Gegenwart

Die "Fünf Lieder für Sopran und Streichquartett", neben "Ein Stelldichein" die bedeutendste Komposition von Weigl für Gesangsstimme und Streichensemble, wurden unter anderem 2013 in der New Yorker Carnegie Hall von Renée Fleming und dem Emerson String Quartet aufgeführt (die Lieder 1 und 3). In München folgt im Rahmen des Odeon Konzerts "Hommage an das Rosé-Quartett" eine Aufführung am 24.4.2016 und während des Kimito Island Music Festivals eine weitere am 15.07.2016 im finnischen Salo.

(© MAS)

Bildnachweise: 

(+) Von Wilhelm Krauskopf (1847–1921). Public domain,{PD-US}

Textnachweise:

(1)  Steiner, Roland: Die "Obersteirische Volkspresse" (1924-1938). Ein Beispiel publizistischer und personeller Diskontinuität im österreichischen Journalismus 1938-1945. Seminararbeit, 2008. * *http://textfeld.ac.at/text/1355/

(2)  List, Rudolf: "Ein Österreichischer Musiker in Amerika: Zum Schaffen des Wiener Karl Weigl."  Austria: Die Welt im Spiegel Österreichs, Zeitschrift für Kultur- und Geistesleben 2, no. 7 (July 1947): 278. Karl Weigl Foundation, www.karlweigl.org.